Die meisten im Handel erhältlichen lerntherapeutischen Therapieprogramme richten sich von der optischen Gestaltung her an Kinder im Grundschulalter. Ausrufezeichen mit Gesichtern und langen Nasen, hüpfende Frösche und andere lustige Abbildungen machen schnell deutlich, dass in erster Linie Kinder unter zwölf Jahren mit diesen Arbeitsblättern und Materialien lernen sollen. Was aber, wenn Jugendliche oder gar Erwachsene zur Lerntherapie angemeldet werden und ähnlich wie ein Kind das Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen erlernen sollen? Die Frage, was in der Lerntherapie mit Jugendlichen anders und grundsätzlich zu beachten ist, wird oft in unseren Fortbildungen „Trainer/in bei Leserechtschreibschwäche (Legasthenie)“ und „Trainer/in bei Rechenschwäche (Dyskalkulie)“ gestellt und soll nachfolgend in aller Kürze beantwortet werden.
Wie lernen Kinder – Wie lernen Jugendliche?
Kinder lernen überwiegend spielerisch und unsystematisch. Das bedeutet auch, dass sie vieles ganz nebenbei in Alltagssituationen erfahren und im eigentlichen Sinne des Wortes be-greifen. Jugendliche hingegen lernen zunehmend abstrakt-intellektuell. Sie müssen den Lerngegenstand nicht mehr in die Hand nehmen, um seine Eigenschaften kennen zu lernen und sich später daran zu erinnern. Kinder lernen vorwiegend für ihre Eltern und Lehrer. Lob und positive Aufmerksamkeit bei schulischen Anstrengungen und Erfolgen sind für sie wichtige Triebfedern. Bei Jugendlichen ist das anders: Sie sind weniger abhängig vom Urteil ihrer nahen Bezugspersonen. Manche lernen für sich und ihre späteren beruflichen Möglichkeiten; anderen fehlt die dafür erforderliche Motivation. Diese Jugendlichen werden mitunter gegen ihren Willen von ihren Eltern zur Lerntherapeutin geschickt.
Eine Verbindung zum Jugendlichen aufbauen
Kommt ein nur wenig motivierter Jugendlicher in die Lerntherapie, muss zunächst eine tragfähige Arbeitsbeziehung aufgebaut werden. Dafür bietet sich das aus der systemischen Therapie stammende Joining (engl. „to join“ = sich verbinden) an: Die Lerntherapeutin begegnet dem Jugendlichen offen, freundlich und interessiert. Sie respektiert sein Wertesystem und orientiert sich an den vorhandenen Ressourcen und Stärken. Bei Jugendlichen, die unfreiwillig in der Lerntherapie sind und vielleicht sogar mit verschränkten Armen dasitzen, kann der aus der lösungsorientierten Kurzzeittherapie stammende Satz „Wie kann ich dir helfen, dass du mich so schnell wie möglich wieder loswirst?“ einen Lacher provozieren, das Eis brechen und ein gutes Gespräch einleiten. Dabei sollten Lerntherapeuten stets davon ausgehen, dass jedem Verhalten eine positive Absicht zugrunde liegt. Durch Annahme auch schwieriger Verhaltensweisen und über eine Suche des Guten im Schlechten kann der Weg frei werden für Veränderungen.
Welches Therapiematerial ist geeignet?
Ist ein Arbeitsbündnis geschlossen, stellt sich die Frage nach geeignetem Therapiematerial. Dieses kann nicht anhand der Klassenstufe oder des Alters des Jugendlichen ausgewählt werden, denn gerade bei lernschwachen Zwölf- bis Zwanzigjährigen muss die Therapie häufig auf frühen Stufen des Lese-, Schreib- oder Rechenlernprozesses beginnen. Aus fachlicher Sicht ist daher oft das eigentlich für Kinder entwickelte Therapie- bzw. Trainingsmaterial geeignet, also das mit den lustigen Abbildungen. Viele Lerntherapeuten behelfen sich hier mit Kopien: Sie decken oder kleben die kindlich anmutenden Figuren ab und erhalten auf diese Weise Arbeitsblätter mit für die Arbeit mit Jugendlichen besser passender Optik. Mittlerweile sind jedoch einige speziell für Sekundarschüler konzipierte LRS- und Rechenschwäche-Fördermaterialien im Handel erhältlich.
Ziele von Lerntherapie mit Jugendlichen
Ziele von Lerntherapie für Jugendliche können im Kompetenzerwerb in den Bereichen Rechtschreiben, Lesen und Rechnen liegen, in der Förderung der Anstrengungsbereitschaft und Lernmotivation, im Entdecken von Stärken und Schwächen und damit in der Erweiterung von Möglichkeiten, im Aufbau metakognitiver Prozesse (Wie ist es gelaufen? Habe ich meine Ziele erreicht?), im Erlernen von Lern- und Arbeitsstrategien, im Stressabbau, in der Überwindung von Prüfungsängsten und letztlich im Erlernen des selbstgesteuerten Lernens.
Punktepläne – auch für Jugendliche?
In der Lerntherapie hat sich die Arbeit mit Verstärkerplänen zur Förderung der extrinsischen (von außen her angeregten) Motivation bewährt. Dabei erhält das Therapiekind Punkte in Form von z.B. Aufklebern, Chips oder bunten Büroklammern, die gesammelt und später gegen einen größeren Verstärker getauscht werden können. Materielle bzw. soziale Verstärker können beispielsweise ein Glitzerbleistift, ein kleines Plüschtier oder ein Kinobesuch mit den Eltern sein. Eignen sich Punktepläne aber auch für Jugendliche und welche Verstärker wären altersgemäß? Ist ein Jugendlicher unzureichend intrinsisch (aus sich heraus) motiviert, kann ein Punkteplan unter bestimmten Voraussetzungen hilfreich sein. Entscheidend ist zum einen, dass sich der Jugendliche auf die Methode einlassen kann und zum anderen, dass ihm die in Aussicht stehende Belohnung attraktiv genug erscheint, um das zuvor festgelegte Zielverhalten (z.B. pünktlich zur Lerntherapie erscheinen) tatsächlich zu zeigen. Der Verstärker sollte daher gemeinsam mit dem Jugendlichen und ggf. seinen Eltern ausgewählt werden, denn einige Belohnungen lassen sich nur in Kooperation mit dem Elternhaus realisieren, so etwa die vorübergehende Entbindung von unbeliebten Haushaltspflichten oder materielle Verstärker wie ein neues PC-Spiel oder eine Konzertkarte.
Spiele in der Lerntherapie mit Jugendlichen?
Ein weiterer Bestandteil von integrativer Lerntherapie sind Spiele. Damit lassen sich Lernziele erreichen, Fähigkeiten vertiefen und Prozesse (z.B. das Einmaleins) automatisieren. Eignen sich Spiele auch in der Lerntherapie mit Jugendlichen oder wäre dies eine unnütze Verwendung der zur Verfügung stehenden Therapiezeit? Spiele können die Motivation zur Lerntherapie zu kommen stärken, den Jugendlichen aktivieren, das Lernen, Denken und Behalten fördern und die therapeutische Beziehung bessern. Darüber hinaus gewähren sie einen diagnostischen Blick auf den Jugendlichen: Hält er sich an Regeln? Bricht er das Spiel ab, wenn er nicht mehr gewinnen kann? Die wichtigsten Kriterien bei der Auswahl von Spielen für die Lerntherapie sind der Spielspaß und der didaktische Nutzen. Gute lerntherapeutische Spiele vereinen beides.
Unterschiede zwischen Lerntherapie mit Kindern und Lerntherapie mit Jugendlichen
Nun stellt sich die Frage, ob Lerntherapeuten mit Jugendlichen im Grunde das Gleiche machen wie mit Kindern oder ob es grundlegende Unterschiede gibt, die eine Lerntherapeutin kennen muss, um Jugendliche in die Therapie nehmen zu können. Unsere Antwort: Die didaktischen Ziele sind oft die gleichen, aber die Übungen und Arbeitsblätter sollten bei Jugendlichen erwachsener wirken, damit sie sich ganz auf die Lerntherapie einlassen können. Gelingt es der Lerntherapeutin jedoch, eine gute therapeutische Beziehung aufzubauen, wird der Jugendliche nachsichtiger sein, wenn doch das eine oder andere Material aus der Kindertherapie zum Einsatz kommt. Jugendliche mit Lerntherapiebedarf wissen selbst am besten, dass Sie viel nachholen und neu lernen müssen und dass ihnen viele Kinder im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen überlegen sind.