Seit wir im Jahr 2003 mit der Aus- und Weiterbildung von Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten begonnen haben, gibt es eine Frage, die uns besonders oft gestellt wird: Dürfen Lerntherapeuten diagnostizieren? Hier unsere Antwort:
Da Lerntherapie medizinische und pädagogische Aspekte hat, muss zwischen medizinischer und pädagogischer Diagnostik unterschieden werden. Pädagogische Diagnostik ist Lerntherapeuten grundsätzlich gestattet; medizinische Diagnostik meist nicht. Warum das so ist, lesen Sie in diesem Beitrag.
„Schwäche“ und „Störung“ sind nicht dasselbe
Zwischen den Begriffen „Schwäche“ und „Störung“ gibt es einen rechtlichen Unterschied, der mitunter selbst Fachleuten nicht bekannt ist. Daher werden Begriffe wie z.B. „Rechtschreibschwäche“ und „Rechtschreibstörung“ oder „Rechenschwäche“ und „Rechenstörung“ oft fälschlich synonym verwendet.
Was sind Störungen?
Störungen wie etwa die „Lese- und Rechtschreibstörung“, die „Isolierte Rechtschreibstörung“ und die „Rechenstörung“ stehen in dem Diagnosehandbuch ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) und sind demnach offizielle medizinische Diagnosen, die laut Heilpraktiker- und Psychotherapeutengesetz ausschließlich Ärzte, Psychotherapeuten und Heilpraktiker stellen dürfen.
Was sind Schwächen?
Schwächen (z.B. „Rechtschreibschwäche“, „Rechenschwäche“, „Lernschwäche“) sind pädagogische Diagnosen und stehen nicht in der ICD-10. Daher dürfen sie auch von anderen Personenkreisen als Ärzten, Psychotherapeuten und Heilpraktikern erkannt und bescheinigt werden. Der Begriff „Schwäche“ soll deutlich machen, dass ein Kind, Jugendlicher oder Erwachsener im Vergleich zu Gleichaltrigen schwache Leistungen zeigt und somit einen Förderbedarf hat.
Vorsicht vor dem Stellen medizinischer Diagnosen
Wer kein Arzt, Psychotherapeut oder Heilpraktiker ist, darf keine Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten (Lesestörung, Rechtschreibstörung, Rechenstörung) diagnostizieren. Der Gesetzgeber sieht hier keinen Unterschied zu anderen Störungen wie z.B. Autismus oder Schizophrenie. Diese medizinischen Diagnosen dürfen ebenfalls nicht von Personen gestellt werden, die über keine Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde verfügen.
Pädagogische Diagnostik – eine Aufgabe von Lerntherapeuten
Lerntherapeuten dürfen Lernschwächen wie z.B. Lese- und Rechtschreibschwäche oder Rechenschwäche diagnostizieren und müssen dies sogar, denn vor jeder Förderung steht das Erkennen eines entsprechenden Bedarfs. Auch die Anwendung von Konzentrationstests oder Intelligenztests ist Lerntherapeuten gestattet, da es in Deutschland kein Gesetz gibt, das den Gebrauch dieser Verfahren bestimmten Fachkreisen vorbehält. Lerntherapeuten dürfen jedoch keine medizinischen Diagnosen stellen, wenn sie nicht zur Heilkunde zugelassen sind.
Da für die Kostenübernahme einer Lerntherapie durch das Jugendamt in der Regel eine Diagnose nach ICD-10 („Störung“) vorliegen muss, muss das Kind bzw. der Jugendliche von einem Arzt oder Psychotherapeuten getestet werden. Ein von einer Lerntherapeutin durchgeführter Lese-, Rechtschreib- oder Rechentest genügt hierfür nicht. Diese pädagogische Diagnostik ist jedoch unverzichtbar, um sich einen Eindruck von den vorhandenen Stärken und Schwächen zu verschaffen und einen schlüssigen Förderplan zu erstellen. Auch im weiteren Verlauf einer Lerntherapie führen Lerntherapeuten Tests durch, um die Wirksamkeit der Förderung zu überprüfen und die Therapie ggf. anzupassen.
Vorsicht vor medizinischem Vokabular
Kinder und Jugendliche mit Lernschwächen haben einen pädagogischen Förderbedarf. Sie sind weder krank noch gestört. Lerntherapeutisch Tätige sollten stets Entwicklungschancen in den Fokus stellen und auf eine lösungsorientierte, nicht zuschreibende Sprache achten. Medizinische Begriffe und Aussagen (z.B. „Legasthenie ist angeboren“) können selbsterfüllende Prophezeiungen in Gang setzen und sind daher zu vermeiden. Lerntherapeuten testen nicht, um eine Diagnose stellen zu können, sondern um Anhaltspunkte für eine sinnvolle Förderung zu erhalten.
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