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Haben nur kluge Kinder eine “echte” LRS / Legasthenie?

Besteht bei einem Kind oder Jugendlichen* der Verdacht auf LRS, wird ein Intelligenztest von vielen Fachleuten für erforderlich gehalten. Doch ist eine Intelligenzdiagnostik bei lese- und/oder rechtschreibschwachen Schülern wirklich stets erforderlich? Lesen Sie in diesem Blog-Beitrag, was die Diskrepanzdefinition zum Inhalt hat, warum Lerntherapeuten bei der Planung und Durchführung einer Lerntherapie auf einen IQ-Test verzichten können, welche Nachteile er haben kann und in welchen Fällen eine Intelligenztestung Kindern mit LRS bzw. Legasthenie Vorteile bieten kann.

Was ist die Diskrepanzdefinition?

Auf den Punkt gebracht besagt die in der ICD-10 stehende Diskrepanzdefinition, dass nur diejenigen Kinder eine Lese-Rechtschreib-Störung haben, deren Intelligenz deutlich über ihrem Lese- und/oder Rechtschreibniveau liegt. Es muss also eine Diskrepanz zwischen dem liegen, was angesichts des IQ-Werts an Lese- und Rechtschreibleistungen zu erwarten wäre. Dieser Widerspruch wird aus medizinischer Sicht als Hinweis auf eine gestörte Entwicklung gedeutet.

Folgen der Diskrepanzdefinition

Die aufgrund der Diskrepanzdefinition vorgenommene Unterscheidung von Diskrepanz-Legasthenikern und sonstigen Lese-Rechtschreib-Schwachen hat eine Ungleichbehandlung von Schülern mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten zur Folge. So wird eine Lerntherapie in den meisten Fällen nur dann von den Jugendämtern finanziert, wenn im Rahmen einer Diagnostik nach ICD-10 eine Lese-Rechtschreib-Störung festgestellt und damit eine Diskrepanz zur Intelligenz bescheinigt wurde. Schüler mit LRS, die im Intelligenztest zu schlecht abschneiden, haben damit keinen Anspruch auf Hilfen in Form von Lerntherapie und/oder Notenschutz.

Kritik an der Diskrepanzdefinition

Studien haben gezeigt, dass sich Diskrepanz-Legastheniker und sonstige Lese-Rechtschreib-Schwache gleichen. Nach Marx, Weber und Schneider (2001) haben beide Schülergruppen Schwierigkeiten im Bereich der lautanalytischen Kompetenzen. Die Fehlerschwerpunkte sind nach Valtin, Badel, Löffler, Meyer-Schepers und Voss (2003) vergleichbar und beide Gruppen profitieren laut Weber, Marx und Schneider (2002) von einem Rechtschreibtraining. Diese Erkenntnisse legen nahe, dass die Diskrepanzdefinition viele lese-rechtschreibschwache Schüler ohne guten Grund von einer gezielten Förderung ausschließt.

Lerntherapie braucht keinen Intelligenztest

Wenn eine Lerntherapie als Privatleistung erfolgt und damit von den Eltern bezahlt wird, kann auf einen Intelligenztest verzichtet werden, da Intelligenztestergebnisse für die lerntherapeutische Arbeit mit dem Kind entbehrlich sind. Als Lerntherapeutin muss ich den Intelligenzquotienten (IQ) meines Gegenübers nicht kennen, denn eine Lerntherapie ist in jedem Fall individuell zu gestalten und berücksichtigt somit die kognitiven Möglichkeiten des Kindes. In einer Lerntherapie geben schon die ersten gemeinsamen Stunden eine Vielzahl von Hinweisen auf das intellektuelle Leistungsvermögen des Kindes. Wenn ich mich darauf einstelle, den Schwierigkeitsgrad anpasse und bei Bedarf alternative Lernwege finde, erreiche und fördere ich jedes Kind: das schlaue und das weniger schlaue. Alle Schüler/innen haben Anspruch darauf, das Lesen und die Rechtschreibung so gut wie möglich zu erlernen, unabhängig von ihrer Intelligenz. Auch Kinder mit einem niedrigen IQ profitieren von einer individuellen Förderung. Warum also sollte eine Intelligenztestung fester Bestandteil einer LRS-Diagnostik sein?

Mögliche Nachteile eines Intelligenztests

Jede Testdurchführung macht etwas mit uns. Das gilt in besonderer Weise für Intelligenztests. Wer möchte nicht wissen, wie hoch der eigene IQ ist und was würde dieses Wissen in uns bewirken? Was macht ein Kind mit der Information, laut Test unterdurchschnittlich, durchschnittlich oder überdurchschnittlich intelligent zu sein? Sicherlich könnten Eltern ihren Kindern das Ergebnis verschweigen, aber auch bei ihnen bewirkt das Testergebnis etwas. Testergebnisse nehmen Einfluss auf das Selbstkonzept und das Verhalten. Ein niedriger IQ-Wert kann die Lernmotivation beeinträchtigen (“Mit meinem IQ werde ich nie gut in Mathe sein!”); ein hoher IQ-Wert kann übersteigerte elterliche Erwartungen wecken (“Mit dem IQ muss der Junge Medizin studieren!”). Bei Kindern sollten Intelligenztests daher nie leichtfertig durchgeführt werden.

Wann ist ein Intelligenztest bei LRS erforderlich?

Zeigt ein Kind schwache Leistungen im Lesen und/oder Rechtschreiben und wird die Finanzierung einer Lerntherapie durch das Jugendamt und/oder Notenschutz angestrebt, so kann ein Intelligenztest erforderlich werden, wenn das Jugendamt oder die Schule eine LRS-Diagnose nach ICD-10 verlangt. In diesem Fall wird der mit der Diagnostik betraute Kinder- und Jugendpsychiater mit hoher Wahrscheinlichkeit auch einen Intelligenztest durchführen. In allen anderen Fällen kann und sollte bei LRS-betroffenen Schülern von einem Intelligenztest abgesehen werden.

Solange die auch international umstrittene Diskrepanzdefinition im Diagnosehandbuch ICD steht, hat sie in medizinischen und rechtlichen Belangen Bedeutung. Aus pädagogischer Sicht sollte sie abgeschafft werden, denn Lesen und Rechtschreiben sind Schlüsselkompetenzen, auf die nicht nur kluge Kinder Anspruch haben.

* Um Dopplungen zu vermeiden, wird nachfolgend nur von Kindern gesprochen. Eine Lerntherapie kann sich jedoch an Kinder, Jugendliche und Erwachsene richten.

Marx, P., Weber, J., Schneider, W. (2001). Legasthenie versus allgemeine Lese-Rechtschreibschwäche. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 15, 85-98.

Valtin, R., Badel, I., Löffler, I., Meyer-Schepers, U., Voss, A. (2003). Orthographische Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern der vierten Klasse. In W. Bos, E.-M. Lankes, M. Prenzel, K. Schwippert, G. Walter, R. Valtin (Hrsg.), Erste Ergebnisse aus IGLU. Schülerleistungen am Ende der vierten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich (S. 227-264). Münster: Waxmann.

Weber, J., Marx, P., Schneider, W. (2002). Profitieren Legastheniker und allgemein lese-rechtschreibschwache Kinder in unterschiedlichem Ausmaß von einem Rechtschreibtraining? Psychologie in Erziehung und Unterricht, 49, 56-70.

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